Autor: Simon Jacob
Ort: Kirchardt, Deutschland
Kategorie: Artikel
Rubrik: Politik, Gesellschaft
Datum: 18.06.2018
Portal: www.simonjacob.info
Textdauer: ca. 7 Min.
Sprache: Deutsch
Titel: 103 Jahre Genozid – Wer hat Angst vor dem Islam ?
103 Jahre Genozid – Wer hat Angst vor dem Islam
Immer wieder erinnern Menschen daran, was ihren Vorfahren in der Vergangenheit widerfahren ist. Ebenso entrüsten sich die Nachfahren jener, die das Verbrechen begangen haben, über die Nachfahren der Opfer, die daran erinnern. Auch das ist inzwischen Routine. Aber wer sind nun diese Opfer? Wer sind diese Suryoye, die Nachfahren jener, die im Osmanischen Reich zwischen 1915 und 1918 neben Armeniern und Griechen in die syrische Wüste deportiert und in großer Zahl ermordet wurden? Hierbei handelt es sich um eine historische Tatsache, die die heutige Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches mantraartig vehement leugnet. Doch ist es Realität, dass die Jungtürken, zumindest unter der Duldung des Deutschen Kaiserreiches, seiner Zeit ein systematisches Massaker an den Christen des Osmanischen Reiches verübten und man bis heute nicht bereit ist, darüber zu reden. Denn jegliches Wort, welches über die Lippen derer kommen sollte, die sich den historischen Tatsachen bewusst sind, käme vielen türkischen Staatsbürgern einem Verrat gleich. Einem Verrat am Nationalgedanken, verankert im Entstehungsmythos der heute noch laizistischen Türkei. Und es wäre auch, und dies ist ebenfalls ein Teil der Geschichte, ein Eingeständnis, dass der Islam, degradiert zu einem Instrument als Rechtfertigung in einem Krieg, als Legitimation dafür dient, unsägliche Gräuel an den Tag zu legen.
In meiner Funktion als Journalist und Buchautor sollte ich zusammen mit dem Journalisten Yawsef Beth Turo und dem Lektor für Semitistik an der Freien Universität in Berlin, Dr. Yousef Khouriyhe, nun die Vergangenheit, die Gegenwart und die weitere Entwicklung dieser Tatsachen näher erörtern.
Die Föderation der Suryoye Deutschland (HSA) und die Syrisch – Orthodoxe Gemeinde in Kirchardt (Mor Stefanos) hatten als Veranstalter der Diskussion, die mit verschiedensten Beiträgen und Daten untermalt wurde, wahrscheinlich eine allgemeine Abhandlung zu den Ereignissen erwartet. Vielleichte ein paar Zahlen, Daten, Fakten, verbunden mit einer Zeremonie in der Kirche, welche vor der eigentlichen Veranstaltung stattfand.
Doch hätte dies auch gereicht?
Wäre das in einer Zeit, in der hunderttausende deutsch – orientalische Christen in der dritten, vierten Generation in Deutschland leben, der Sache gerecht worden?
Hätte es der Stimmung jener eine Plattform gegeben, die gerade erst in der Hoffnung nach Europa geflohen sind, hier, in einer funktionierenden Demokratie, ihrem Glauben frei nachgehen zu können?
Wenn wir uns nun die Stimmung in Deutschland und allgemein in Europa betrachten, und die Anschläge der letzten Jahre berücksichtigen, den Rechtsruck in der Gesellschaft und die berechtigte Sorge vieler hier lebenden Bürger, die keinen verwandtschaftlichen oder ethnischen Bezug zum Nahen Osten haben, müssen wir uns die Frage stellen, warum gerade dieser eine Genozid, dieser eine unter vielen, uns allen so viel Sorge bereitet.
Nun, die Antwort ist einfach. So einfach und direkt. Augenscheinlich und schmerzlich zugleich. Mal beschämend, mal zurückhaltend, doch sehr oft problematisch und schwierig. Sie könnte in Folge pauschal missbraucht werden und damit weitere Konflikte auslösen, die es anderen wiederum schwer machen, über den Kern des Problems zu sprechen.
Doch was nützt es uns, wenn wir ihnen keine Plattform für ihre Sorgen geben, um der Angst willen, die bei den orientalischen Christen bereits seit über Jahrhunderte währt: dem Siegeszug des Islams und der Erhebung der Religion zum kriegerischen Dogma, welches Nichtmuslime im Fall von Christen und Juden zu Menschen zweiter Klasse oder, wie es bei den Jesiden der Fall ist, sogar zu noch weniger, degradiert?
Und was nützt es uns, wenn deutsch – deutsche Staatsbürger, getrieben durch die Ereignisse im Nahen Osten und punktuellen Anschlägen, gepaart mit einem Frauenbild, welches von männlich – patriarchalischen Strukturen genährt wird, nun ebenfalls diese Angst empfinden, während Funktionäre muslimischer Verbände routiniert vom Islam als „Religion des Friedens“ sprechen?
Jetzt sind wir hier, an diesem kleinen idyllischen Ort, in einer Syrisch – Orthodoxen Gemeinde im beschaulichen Schwabenländle und diese Angst ist wieder zu spüren, weil ihre Vorfahren sie bereits spürten und deren Vorfahren und Ahnen, die bereits seit Jahrhunderten unter dem Joch der Scharia, der islamischen Rechtsprechung, mal mehr, mal weniger, zu leiden hatten.
Doch nun ist an diesem wunderschönen Sonntag an diesem verträumten und friedlichen Ort, welcher unter dem Antlitz der Mittagssonne so harmonisch wirkt und um den das Grün herum nicht satter sein könnte, etwas anders.
In ganz Deutschland, ja in ganz Europa, hat sich etwas geändert. Rechtspopulisten sind auf dem Vormarsch. Frauen mit Kopftuch und Männer mit langem Bart werden argwöhnisch betrachtet. Flüchtlinge mit nahöstlichem Ursprung werden mit einem Frauenbild in Verbindung gebracht, das mit dem Grundgesetzt nicht vereinbar ist.
Betrachtet man sich die Situation der allgemein gültigen Menschenrechte in mehrheitlich muslimisch geprägten Staaten, wird es dann nicht langsam Zeit ehrlich zu allen Bürgern dieses Landes zu sein, egal ob gläubig oder ungläubig, unabhängig der politischen Gesinnung und des Geschlechts, dass Menschen einfach vor dem Angst haben, was als religiös – politische Grundlage dient, um legitimiert herrschen zu können?
Diese Angst war und ist es, welche viele Bürger mit christlich – nahöstlichen Wurzeln und deutschem Pass an der Wahlurne in die Hände der Populisten drängt.
Und inzwischen nicht nur sie.
Bei jedem weiteren Anschlag, bei jeder weiteren Vergewaltigung, auch wenn die Anzahl im Verhältnis zur Anzahl der Flüchtlinge prozentual eher gering ist, bei jedem Streit, in dem die Ehre des Zugewanderten augenscheinlich mit dem Rechtsstaat kollidiert und zu einem Konflikt führt, wächst auch in der Mitte der Bevölkerung die Angst.
Und manifestiert sich in stereotypischem Denken, Hass und Wut, welche sich unkontrolliert in den sozialen Medien weiter verbreiten, wo ein digitaler Tsunami, bestehend aus Halbwahrheiten und skurrilen Verschwörungstheorien, das Potential entfaltet, unsere Gesellschaft zu spalten und in der Flut der Ereignisse auch die Grundsäulen der Demokratie zu erschüttern.
Um dieser Angst entgegenzutreten, diesem diffusen Gefühl der immerwährenden Sorge um die eigene Existenz, bedingt durch die Erinnerung an die Geschehnisse im Osmanischen Reich vor nunmehr 103 Jahren, sollten wir endlich damit beginnen, ehrlich mit den Menschen unserer Gesellschaft umzugehen. Im Besonderen, wenn es um Muslime geht.
Ehrlich wäre es zu sagen, dass es viele Menschen gibt, die einfach Angst vor dem Islam haben.
Simon Jacob
Augsburg, 18. Juni 2018
Buchtipp:
Seit Jahren reist Simon Jacob durch Länder wie Syrien, Irak oder Iran. Als Angehöriger eines wichtigen Clans gelangt er an Orte, die für andere nie zuganglich waren. Dort spricht er mit Menschen, immer auf der Suche: der Suche nach Frieden, auch seinem eigenen Inneren. Seine Reise schildert auch die Schrecken dieser Kriegsgebiete. Aber mehr noch zeigt dieses Buch, dass und wie Friede wirklich möglich ist. Eine Botschaft, die vor allem in diesen Tagen Mut und Hoffnung macht und motiviert, zu kämpfen für eine bessere Zukunft und für etwas, was Simon Jacob ausgerechnet im Irak und in Syrien wiedergefunden hat: Menschlichkeit.
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