Der Artikel ist Teil einer mehrteiligen Serie mit Berichten und Videos über die Situation in Nordsyrien/Nordirak, entstanden im Frühjahr 2018 - Der Auftaktartikel kann HIER nachgelesen werden.
Camp Speicher – Wie die sozialen Medien dem IS zu einem Massaker verhalfen
Am 11. und 15. Juni 2014 fand eine medial plakativ in Szene gesetzte Massenexekution, ausgeführt durch den IS und sunnitische Stämme, statt, die viele erschütterte. Der Kampf um das Camp Speicher, welches Rekruten der irakischen Armee ausbildete, war eine der grausamsten Taten des IS, den dieser nur zu gerne medienwirksam, im Besonderen über Twitter, allen Interessierten zukommen ließ. Opfer waren laut verschiedenen Quellenangaben zwischen 560 und 770 junge Rekruten und mehrere Hundert Zivilisten. Insgesamt gelten 1566 irakische Luftwaffenkadetten als vermisst. Nach der Rückeroberung von Tikrit fand man insgesamt 14 Stellen, an denen die Leichen der Exekutierten verscharrt worden waren.
Doch wie konnte es soweit kommen? Wie war es eigentlich möglich, dass Rekruten, die gut geschützt und dazu auch noch bewaffnet in einer Kaserne ausharrten, vom IS, der nicht unbedingt mehr Kampfeinheiten zur Verfügung hatte, so einfach und effektiv überwältigt werden konnten?
Nun, die Wahrheit ist erschütternd und bitter zugleich. Erschütternd, weil das Ausmaß des Verbrechens gegen die Menschlichkeit gewaltig ist. Bitter, weil eine Strategie angewendet wurde, welche den moralischen Zweck modernster Kommunikationstechnologien, die jedem zugänglich sind, praktisch zur Absurdität erklärt und uns allen vor Augen hält, dass Twitter und Co. auch unglaublich effektive Waffen sein können.
Um einen tieferen Einblick in die Geschehnisse zu erhalten, treffen wir einen hohen Militärbeamten, der beim Kampf um Camp Speicher mit dem IS direkt beteiligt war. Aus Gründen der Sicherheit wird die Identität nicht erwähnt. Doch sollten uns im Westen die Details und die Beschreibung der IS – Strategie, die gut ausgeklügelt und gut vorbereitet, im eigentlichen Sinne recht einfach umgesetzt, zur Eroberung geführt hat, intensiver beschäftigen. Laut den Aussagen des Offiziers, der beim Einsatz und der Verteidigung der Anlage mehrfach verletzt wurde, ging eine monatelange Planung voraus, die der IS niemals ohne Hilfe sunnitischer Stämme, die mit der Terrororganisation kooperierten, alleine hätte bewältigen können. Ausschlaggebend war die Infiltration der Familien der Rekruten durch augenscheinlich freundlich gesinnte Bürger, welche die Gewohnheiten der noch recht jungen Soldaten auskundschaften sollten. Teilweise wurden enge Beziehungen zu den Familien aufgebaut, um in Erfahrung zu bringen, welche Rekruten sich wann, in welchem Zeitraum und wie lange in der Kaserne zur Ausbildung aufhielten. Als nun der Befehl seitens des IS und der Verbündeten erfolgte, fand eine synchron abgestimmte Kommunikationsstrategie statt, die, wenn es nicht so traurig wäre, wahrscheinlich ein perfektes Szenario für einen Hollywood – Thriller liefern würde. Die Rekruten wussten bereits um einen Angriff auf die Stadt Tikrit, welche nicht unweit vom Camp lag und man bereitete sich auf einen bewaffneten Konflikt vor. Den IS und seine Verbündeten nun vor der Türe wissend, stellte man sich auf die Verteidigung ein, als plötzlich mehrere Rekruten über WhatsApp, Facebook und andere Messenger-Dienste Nachrichten von ihren Familienangehörigen, Eltern, Geschwister, Ehefrauen erhielten. In denen wurde ihnen mitgeteilt, dass alles in Ordnung sei und ihnen nichts geschehen werde, wenn sie die Waffen abgeben und sich ergeben würden. Man würde sie dann frei lassen. Zusätzlich wurde durch eine mediale Offensive des IS, welche zu Verwirrung in der Bevölkerung führen sollte, der Eindruck vermittelt, man hätte im Kampf aufgrund der zahlenmäßigen Überlegenheit des IS keine Chance. Aufzugeben wäre die bessere Option. Der Bluff ging auf und so kam es, dass sich die meisten Rekruten ergaben und damit in die Hände des IS gerieten. Bekanntermaßen endete dies mit einem Blutbad, welches als das „Massaker von Speicher“ in die Geschichtsbücher menschenverachtender Verbrechen eingeht.
Manch einer im Westen wird nun eventuell über die exzellente Technologie staunen, die der IS gebraucht hätte, um die Sim–Karten dieser vielen Menschen zu übernehmen. Doch mutet man einer Terrororganisation hierbei viel zu viel Know–how zu. Tatsächlich erfolgte der synchronisierte Akt der Täuschung viel einfacher. Wie anfangs erwähnt, infiltrierte man im Vorfeld die Familienangehörigen der Opfer und als es so weit war, ließ man die Maske der freundschaftlichen Gesinnung fallen. Perfekt abgestimmt zum Zeitpunkt X zwang man sie nun gewaltsam, den jungen Soldaten im Camp die freundliche Nachricht zukommen zu lassen, dass alles in Ordnung sei und man sich nur zu ergeben hätte. Mit den bereits beschriebenen Folgen, die zum grausamen Tod vieler junger Menschen und entsetzlichen Bildern führten, die unsere Smartphones über Twitter, Facebook und WhatsApp überfluteten.
Dem Offizier, der überlebt hat, richte ich meinen allergrößten Dank für die detaillierte und sehr hilfreiche Beschreibung aus, die uns auch in Europa dabei helfen sollte, die digitale Kommunikation aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.
Simon Jacob
28. Februar 2018, Bagdad /Zentralirak
Buchtipp:
Seit Jahren reist Simon Jacob durch Länder wie Syrien, Irak oder Iran. Als Angehöriger eines wichtigen Clans gelangt er an Orte, die für andere nie zuganglich waren. Dort spricht er mit Menschen, immer auf der Suche: der Suche nach Frieden, auch seinem eigenen Inneren. Seine Reise schildert auch die Schrecken dieser Kriegsgebiete. Aber mehr noch zeigt dieses Buch, dass und wie Friede wirklich möglich ist. Eine Botschaft, die vor allem in diesen Tagen Mut und Hoffnung macht und motiviert, zu kämpfen für eine bessere Zukunft und für etwas, was Simon Jacob ausgerechnet im Irak und in Syrien wiedergefunden hat: Menschlichkeit.
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