Wie die Geschichte unser Bewusstsein prägt
Sanherib Ninos, 33, Historiker, Philosoph und Altphilologe, kam 1986 als Sohn assyrischer Gastarbeiter in Augsburg auf die Welt. Nach seinem humanistischen Studium an den Universitäten in Bielefeld, Hannover und Osnabrück lehrt er aktuell an einem Gymnasium die Fächer Geschichte, Latein und Philosophie. Im Rahmen seiner wissenschaftlichen Forschungstätigkeit an der Universität Bielefeld widmete er sich mit besonderem Fokus den Themenschwerpunkten Gewalt und Genozid sowie Diaspora und Identität. Aufgrund seiner Expertise hält er weltweit Vorträge zu komplexen interdisziplinär geführten Fragestellungen. Ninos ist nicht nur ein Experte für die europäische Kultur und Geschichte, durch sein genuines Interesse am Orient zeichnet er sich als Kenner der antiken sowie modernen Geschichte des Nahen Ostens aus. In seinen Vorträgen werden u.a. soziale, politische und historische Themen erörtert, die durch fundierte Analysen mittels einschlägiger Quellenzugänge beleuchtet werden.
Warum können wir aus der „Geschichte“ etwas für die Zukunft lernen?
Weil wir gesellschaftliche und politische Konstellationen verschiedenster Kulturen und Völker von der Antike bis zur Neuzeit aus Quellen detailliert kennen. Im Bewusstsein dieses bereichernden Wissens können wir einen Nutzen für uns und unsere Zukunft ziehen. In diesem Kontext können wir eine markante Zäsur setzen: mit der französischen Revolution gab es einen gesellschaftlichen Umwandlungsprozess, welchen man nach dem Historiker Koselleck als „Sattelzeit“ bezeichnet. Denn mit dieser begann ein gesellschaftlicher und politischer Systemwechsel, zuvor regierten Menschen über Menschen und es gab das Recht der Geburt, darnach aber formten sich bürokratische Systeme, die in Verfassungen und Gesetzen ausformuliert wurden. Fortan regieren die Systeme über Menschen und dabei weicht das Geburtsrecht dem Leistungsprinzip.
Werfen wir beispielsweise einen Blick auf die antiken Gesellschaften im 12. Jahrhundert vor Christus und betrachten ihre ökonomischen Beziehung zueinander, dann werden wir erkennen, dass es bereits damals eine Art „Vorläufer“ eines verzweigten multilateralen Wirtschaftssystems gegeben hat, das über Kontinente (Eurasien) hinweg intakt war und diese miteinander verband. Dies könnte man so gesehen auch mit dem Wirtschaftssystem des EU-Raumes vergleichen. Denn antike Produkte wurden auf Basis von Gold und Silber vom Orient in den Westen importiert und vice versa exportiert. Ebenso verhält es sich mit dem politischen Systemen, denn schließlich haben wir uns die attische Demokratie zum Vorbild unseres westlichen sozialen Konstrukts des Miteinanderlebens genommen. Unser Bewusstsein für Recht und Ordnung fußt auf dem römischen Rechtswesen nebst Rechtsordnungen.
Auch die Gesellschaften im nachchristlichen Europa sind mit großen Migrationsströmen (Völkerwanderungen) umgegangen und haben sie überdauert. Dies hat letztlich zur kulturellen Pluralität des europäischen Kontinents beigetragen und ist als Reichtum für das Erbe der Welt zu sehen.
Im Grunde genommen sollten wir ein tiefes historisches Bewusstsein für unsere Vorfahren haben, von denen wir viel Positives für unsere Zukunft ableiten können. Schließlich haben wir ihnen viele kulturelle Entwicklungen, vor allem auf geistiger Ebene, zu verdanken. Dies ist eine rein humane Kulturtechnik, die seit Jahrtausenden andauert.
Genau so aber müssen wir aus den negativen Aspekten der Geschichte lernen, bei denen sich Entmenschlichung, Verrohung und tiefe Abgründe aufgetan haben, so z. B. an den systematisch betriebenen Genoziden von Staaten gegenüber einen Teil seiner Bürger, allen voran vom Holocaust an den europäischen Juden. Derartige Ereignisse müssen ebenso im Bewusstsein der Menschen ewiglich verankert werden und der Weltbevölkerung stets vor Augen geführt, sodass sich solche von Regimen geplante Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gleichzeitig gegen die Menschheit, um den Philosophen Karl Jaspers zu zitieren, nie wieder ereignen werden. Denn Weltkriege und Genozide haben unser Bewusstsein nachhaltig geprägt
Ist die Kultur ein Gut der Menschheit?
Ja, denn Kultur ist Ausdruck des schöpferischen Geistes der Menschen. Triebfeder für kulturelle Errungenschaften waren geistige, kognitive und emotionale Prozesse. Alles, was vom Menschen geschaffen wird, ist Errungenschaft seiner kulturellen Prägung. Gesellschaftsformen, Wirtschaftssysteme, Werte und Normen sowie Religionen gehören zu den kulturellen Fertigkeiten der Menschheit. Der Mensch hat sich seine Umwelt mit rationalem Denkmustern erschlossen, sich die Natur zu eigen gemacht, Gesellschaftsverträge miteinander ausgehandelt und sich in Gesellschaften zusammengetan, Sprache zu Kommunikationszwecken entwickelt, Schrift als Ausdruck seiner geistigen Orientierung geformt und sich auf Basis dessen eine Identität gebildet, zivilisatorische und religiöse Kodizes gesetzt, Bewusstsein für Moral und Tugend geschaffen, gemeinsame Wertekanons definiert und viele weitere Errungenschaften hervorgebracht.
Dabei profitieren wir von der Tatsache, dass wir die kulturelle Stufe immer weiter erklimmen, indem wir genau dies von Generation zu Generation weiter tradieren. Genauso haben wir einen inneren Drang als soziale Weltgemeinschaft, uns stetig weiterzuentwickeln und durch all unser Dazutun voranzukommen.
Gab es so etwas wie Kulturimport?
Nicht nur Güter wurden im- und exportiert, sondern eben auch Kultur. Dabei ist die historische Entwicklung von West gen Ost vonstattengegangen. Aus dem „Fruchtbaren Halbmond“, dem heutigen Vorderen Orient haben wir im Westen viele Kulturgüter erhalten. Sei es das Bier, die Mathematik oder das Schriftsystem – all diese menschlichen Entwicklungen haben wir den Hochkulturen der Sumerer, Assyrer, Ägypter oder Babylonier zu verdanken. Bezeichnend ist ebenso, dass die monotheistischen Religionen aus dem orientalischen Kulturkreis stammen und folglich das Christentum zur Staatsreligion des Oströmischen, später des Heiligen Römischen Reiches und weiterer europäischer Königreiche und Staatenkonstrukte erhoben wurde. Auf diese Weise haben wir es dem geistigen Transfer von Kultur zu verdanken, dass sich soziale oder religiöse Identitäten überhaupt entwickeln konnten.
Das schweißt uns als kollektive „Solidargemeinschaft“ zusammen und verbindet uns alle unmittelbar miteinander. Schließlich haben die großen Handelsstraßen einen großen Teil dazu beigetragen, dass auf diesem Wege Kulturen einen Austausch erfuhren und das Wissen sowie die Ideen von Gebiet zu Gebiet weiter gewandert sind.
Orient und Okzident – zwei Welten in einem Kosmos?
Beide sind unweigerlich miteinander verknüpft, damals wie heute. Nehmen wir das Gilgamesch-Epos als literarisches Beispiel und lernen wir wieder aus der Historie. Dieses Epos wird heute in der Literaturwissenschaft immer noch zur Weltliteratur gezählt. Bereits im ersten Jahrtausend vor Christus war es das geistige Meisterwerk par excellence, das unter allen Nachfolgekulturen in Ost und West gelesen wurde. Denn schließlich fußen die europäischen Nationalepen wie Homers Ilias und Odyssee sowie Vergils Aeneis auf diesem literarischen Fundament. Auch für die Philosophie gilt selbiges, das, was wir als genuin europäisch vermuten. Griechische Philosophen haben ihr Wissen aus den kosmopolitischen Zentren Kleinasiens entnommen und weiterentwickelt. Dort hat sich das alte Wissen um die Wissenschaften aus dem Alten Mesopotamien akkumuliert, denn genau diese Gebiete Kleinasiens bilden die Schnittstelle zwischen Orient und Okzident, in denen der Wissenstransfer stattgefunden hat. Und spätestens seit Alexander dem Großen gab es Akkulturationsprozesse im Sinne einer Kulturverschmelzung von Ost und West. Auch im Römischen Reich, speziell unter Trajan und Hadrian, gehörten große Teile des Nahen Ostens diesem an. So kommt es, dass es einen stetigen Austausch zwischen Ost und West gegeben hat, eine innere kulturelle Verbindung dadurch unbestreitbar ist.
Selbst unser heutiges modernes Wissen verdanken wir dem Orient. Während Europa in die Epoche des „dunklen“ Mittelalters hineinrutschte und damit das Bewusstsein für antiken Disziplinen wie Philosophie und Literatur in Vergessenheit geriet, brachten uns die Araber das Wissen über Andalusien und Sizilien zurück. Dieses Wissen wurde wiederum von den orientalischen Christen, die es in ihren Klöstern konservierten und interpretierten, den Arabern nahegebracht. Dadurch wurde die Epoche des Humanismus und der Renaissance überhaupt erst eingeleitet und unsere moderne Zivilisation konnte sich auf diesem Fundament gründen. Somit bilden beide Kontinente historisch gesehen eine Einheit. Ebendeswegen tragen wir auch eine moralische Verantwortung für die Menschen aus dem Orient und für deren Schicksal. Wir müssen uns der Menschen aus diesem Kulturkreis annehmen und für sie als europäische Wertegemeinschaft da sein, indem wir ihnen eine sichere Zuflucht bieten, sie hier als vollwertige Bürger anerkennen und ihnen natürlich auch eine gleichberechtigte Chance in unserer Gesellschaft eröffnen. Denn jedem soll der gesellschaftliche Zugang und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gewährt werden, sodass wir auf dieser Basis den beidseitigen Umgang miteinander zu schätzen lernen.
Wie sieht die zukünftige Kultur Deutschlands aus?
Ich wünsche mir, dass sie von einer pluralistischen Kultur durch und durch geprägt sein wird. Denn wir alle können von diesem kulturellen Reichtum profitieren. Dabei gilt es, eine neue Gemeinschaftskultur zu formen, in der jeder Mensch willkommen ist. Aber für einen derartigen Schritt müssen wir uns noch verändern, unsere Politik neu ausrichten, toleranter werden, Menschen in unserem System eine faire Chance eröffnen und Pluralismus bewusst leben. Eine Zuwanderungsgesellschaft wie die unsrige muss sich erst selbst definieren. Auf dem historischen Fundament unserer humanistischen und christlichen Werte ist dieser Schritt nicht allzu groß, dabei müssen wir nur unser Bewusstsein schärfen. Toleranz, Akzeptanz, Individualität und Freiheit sollten von uns als Tugenden einer demokratischen Gesellschaft bewusst gelebt werden. Auf diese Weise kann dann eine gelungene Integration unserer neuen Mitbürgerinnen und Mitbürger funktionieren, sodass wir uns wechselseitig bereichern.
Eines gilt es aber gemeinsam zu bekämpfen: fundamentale, faschistoide und ausgrenzende Ideologien, die Menschen oberflächlich kategorisieren und ein Schwarz-Weiß-Denken überhaupt zulassen. Dabei gilt es im Besonderen, in Kategorien jenseits von Nationalismen und rassistischem Gedankengut zu denken. Schließlich bilden alle Menschen eine „Schicksalsgemeinschaft“, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe oder ihrer Religion. Nicht Lippenbekenntnisse, sondern Taten sind in einer Zeit der Veränderung und des Umbruches für unsere Zukunft vonnöten. Für eine solche Unternehmung sollte jede/r Bürger/in sein Möglichstes beitragen.
Dieses Ziel steht in großer Korrelation zum Bildungsniveau seiner neuen Bürger/innen, denn genau dies bildet den Schlüsselfaktor für eine gelingende Integration der zu uns Zugewanderten und wird damit signifikant für die Zukunft unseres Landes sein.
Simon Jacob,
Sanherib Ninos,
1. Februar 2017
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