Frau, Sexualität und Religion – Ein ambivalentes Verhältnis?
Eine junge Frau mit nahöstlich – christlichen Wurzeln, in Deutschland geboren und aufgewachsen, verfasste einen Text, dessen Inhalt, auch der jungen und unerfahrenen Naivität geschuldet, zu etwas führte, was in der digitalen Welt moderner Medien - im inzwischen anerkannten Neudeutsch - als Shitstorm bezeichnet wird.
Was war passiert? Ninve Ermagan studiert an der Universität in Mainz Geschichte, engagiert sich medial wie auch kulturell in der Gesellschaft und versucht den Spagat zwischen zwei, pardon, drei Welten zu meistern.
- Da wäre zum einen die säkular geprägte Gesellschaft des Westens, mit all ihren pluralistischen Normen, ausgerichtet auf das Individuum. Frei von traditionell – patriarchalischen Dogmen, der geschlechtlichen Zuordnung aufgrund religiöser Weltanschauungen oder sexueller Neigungen.
- Die junge Frau bekennt sich im gleichen Atemzug zu ihrem syrisch – orthodoxen Glauben, welcher, wenn man sich hier die traditionelle Rollenverteilung ansieht, durchaus, punktuell und garniert mit den kulturellen Hintergründen einer Stammesgesellschaft, mit der westlichen Kultur des Individuums im Zentrum, konfligieren kann und dies auch tut. Gleiches wäre auch der Fall, wenn Frau Ermagan einer puritanischen und orthodoxen Strömung des Islams, Judentums oder Hinduismus angehören würde.
- So befindet sich die junge Frau, die sowohl in der Welt des freien Individuums als auch des religiös und nach Stammesprinzipien geprägten Kollektivismus groß geworden ist, in der Zwickmühle der hybriden Kultur, die so viele Migranten in der westlichen Kultur, mich als Autor dieses Textes eingeschlossen, in eine innere Zerrissenheit führt, die es zu lösen gilt. Die Flüchtlingsströme aus nahöstlichen Kreisen, welche, das ist nun einmal Fakt, der Frau gerade im Zusammenhang mit sexueller Entfaltung weniger Spielraum beimessen als die auf den Einzelnen und dessen Freiheiten ausgelegte Gesellschaft westlicher Prägung, werden Europa noch vor massive Herausforderungen stellen.
Wahrscheinlich hatte die junge und sehr engagierte Studentin diese innere Zerrissenheit vor Augen, als sie bei dem Blog „Ruhrbarone“ einen Artikel veröffentlichte (hier nachzulesen), der sich äußert kritisch mit dem aufkommenden Konflikt zwischen patriarchalischem Kollektivismus (Stammeskultur) und säkularem Individualismus (westlicher Lebensstil), bedingt durch Globalisierung und Medien, beschäftigte. Die Initiative, gepaart mit der offenen Ehrlichkeit welche den Artikel prägte, erforderte Mut, der gewürdigt werden sollte. Ist dies doch auch der Versuch gegen eine Entwicklung anzukämpfen, die, sofern man seinen Sorgen und Ängste keinen Ausdruck verleiht, jene Errungenschaften zunichtemachen könnte, die mutige Frauen und Männer im Sinne der Gleichberechtigung die letzten Jahrzehnte so intensiv erstritten haben. Wer würde in der westlichen Gesellschaft eine unverheiratete Frau noch verurteilen, die einen Lebenspartner hat und mit diesem auch ihr Leben, ob nun sexuell oder geistig, auszuleben vermag? Genauso ist es das Recht eines jeden gläubigen Menschen, aus welchen Gründen auch immer, bis zur Ehe enthaltsam zu leben, zu fasten oder ein Kopftuch zu tragen, sofern dies frei von äußeren Zwängen geschieht und den eigenen Bedürfnissen angepasst ist. Das macht eine freie Gesellschaft nun einmal aus, unabhängig des Geschlechts und der sexuellen Neigung. Und genau diese Freiheit, die sich die Verfasserin des Artikels nahm, in überspitzter Form ausgeführt, intensiv provokativ und zu sehr ausgerichtet auf die persönlichen Erfahrungen und traumatischen Erlebnisse, führten zu eben jenem Shitstorm, welcher beängstigend ist. Angsteinflößend nicht deswegen, weil die junge Autorin zurecht für die Pauschalisierung ihrer Erfahrungen gegenüber ihrer syrisch-orthodoxen Religionsgemeinschaft kritisiert wurde. Doch ist Kritik in einer von Meinungs- und Pressefreiheit geprägten Welt Teil dieser und trägt, wenn nicht sogar als wichtigste Säule, im Besonderen dazu bei, Demokratie und Menschenrechte abzusichern; ausgehend davon, als verbrieftes Recht, dass Kritik geäußert werden kann und Kritik auch ertragen werden muss. Ob nun religiös, politisch oder gesellschaftlich geprägt ist nicht von Bedeutung. Kritik ist wesentlicher Bestandteil einer freien Gesellschaft, was es zu akzeptieren gilt.
Doch wo endet Kritik und wo beginnt Beleidigung? Ein Thema, ja gar eine gesellschaftliche Herausforderung, in der Debatten zunehmend über soziale Medien ausgeführt werden, welche die demokratische Grundordnung und damit die Freiheit des Individuums zu erschüttern drohen.
Gewiss, gerade der Hang über die eigenen Erfahrungen, so traumatisch diese auch sein mögen, auf die gesamte nahöstlich – christliche Community zurückzuschließen bzw. zu pauschalisieren, musste kritisiert werden - was auch erwartungsgemäß eintrat. Die Autorin hatte damit gerechnet. Ansonsten hätte sie den Inhalt, so provokant dieser auch sein mag, nicht in dieser Art und Weise veröffentlicht. Insofern ist der Diskurs, der geführt wurde, kritische Äußerungen inkludiert, nicht nur wünschenswert. Er ist sogar als Teil einer offenen Gesellschaft vonnöten, die die Fähigkeit hat kritische Probleme, ohne Ängste und Sorgen, austariert innerhalb dessen was wir Meinungsfreiheit nennen, auszudiskutieren.
Doch genau hier setzte die Autorin, erschrocken über die Art und Weise wie Kritik an den Tag gelegt wurde, zum Rückzug an. Sie deaktivierte ihren Facebook Account aufgrund des „Shitstorms“, welcher sich über sie ergoss. Die Schwelle jener sachlicher und objektiver Kritik, die Bestandteil einer freien Gesellschaft ist, wurde in das Vulgäre, Schamlose ja sogar Hinterwäldlerische übertragen, als Ermagan leider gerade von jungen Vertretern ihrer eigenen deutsch – nahöstlichen Community, die die Vorzüge einer freien und demokratischen Gesellschaft genießen, auf widerwärtigste Weise in den sozialen Medien, der Öffentlichkeit zugängig, zutiefst beleidigt wurde. Das Geschlecht jener, die die junge Frau der Prostitution bezichtigten, der unendlichen Lust nach sexuellen Genüssen im Zusammenhang mit einer äußert niederschwelligen und primitiven Drohgebärde, spielte keine Rolle. Die Inhalte der Beleidigungen betrachtend fühlt man sich gezwungen die Frage zu stellen, was bei jungen Menschen, die in Deutschland auf die Welt gekommen und groß geworden sind, schief gelaufen ist.
Einerseits profitieren auch jene von der Freiheit sich sorgenfrei und kritisch gegenüber zum Beispiel Parteien, Politikern, anderen Religionen äußern zu können. Doch gleichzeitig missbrauchen sie diese Freiheit; im fatalen Zusammenhang mit dem Missverständnis, dass verbale Beleidigungen mit Kritik gleichzusetzen sind. Manche betrachten dies sogar als ihr verbrieftes Recht, ohne das Bewusstsein erlangt zu haben, dass dies Ausdruck einer zutiefst chauvinistischen Gesellschaft ist. Selbst auf die Gefahr hin sich mit solchen Äußerungen im strafrechtlichen Raum zu bewegen, tragischerweise überaus begründet, scheint entweder nicht abzuschrecken, zeugt von einem besorgniserregendem Demokratieunverständnis oder immensen Bildungslücken. Vielleicht ist es auch ein Zusammenspiel aller genannter Faktoren, was man durchaus als gesellschaftlich – toxisches Gemisch betrachten kann und sollte.
Und eben jenes Demokratieverständnis ist es, welches patriarchalisch geprägten Gesellschaften, ob nun aus dem Nahen Osten, Afrika, dem Kaukasus, dem Balkan oder Asien, fehlt. Zu leicht brandmarkt man, populistischen und polemischen Protagonisten auf Stimmenfang dienend, die Religion, wie z.B. den Islam, als Ursache allen Übels. Und verkennt dabei völlig, dass die Konfessionalisierung einer Gesellschaft, in verschiedenen Abstufungen und je nach Religion, Tradition oder Weltanschauung, zum politischen Diktat verkommt, welcher dem Machterhalt des Patriarchats dient. Das Feindbild des Patriarchats, dessen ureigenste Angst vor Machtverlust betrachtend, da nur im Kollektivismus überlebensfähig, ist der Individualismus, an dessen Spitze die Gleichberechtigung von Mann und Frau, gefolgt von Presse- und Meinungsfreiheit wie auch im Besonderen die Religionsfreiheit stehen. In diesem Zusammenhang ist schlussfolgernd zu sagen, dass Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit nur dann zur vollen Entfaltung kommen, wenn diese an der Spitze stehend an die Gleichbehandlung der Geschlechter gekoppelt sind.
In diesem Sinn sollte die Autorin Ermagan den Mut finden, weiterhin für die Freiheit des Individuums zu kämpfen. Parallel mit der Entwicklung der nötigen Sensibilität für eine vielschichtige Gesellschaft, ohne sich in den traumatischen und, bedauernswerten, eigenen Erlebnissen zu verlieren.
Simon Jacob
Buchtipp:
Seit Jahren reist Simon Jacob durch Länder wie Syrien, Irak oder Iran. Als Angehöriger eines wichtigen Clans gelangt er an Orte, die für andere nie zugänglich waren. Dort spricht er mit Menschen, immer auf der Suche: der Suche nach Frieden, auch seinem eigenen Inneren. Seine Reise schildert auch die Schrecken dieser Kriegsgebiete. Aber mehr noch zeigt dieses Buch, dass und wie Friede wirklich möglich ist. Eine Botschaft, die vor allem in diesen Tagen Mut und Hoffnung macht und motiviert, zu kämpfen für eine bessere Zukunft und für etwas, was Simon Jacob ausgerechnet im Irak und in Syrien wiedergefunden hat: Menschlichkeit.
Bestellbar über