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Die Zukunft der Christen im Nahen Osten – Wir müssen ehrliche Debatten führen
Seit nunmehr 8 Jahren beschäftige ich mich aktiv mit dem Schicksal der verfolgten Christen im Nahen Osten, welche durch ihre negativen Erfahrungen im Umgang mit den Menschenrechten, mal politisch legitimiert, dann wieder religiös motiviert, für bedrohliche Entwicklungen immens sensibilisiert sind. Dies zeigt sich auch an der Wahlurne in Europa, wenn die inzwischen seit vielen Generationen Eingebürgerten ihre Stimme abgeben. Aus Angst und Sorge vor Terror, aber auch aus den Erfahrungen mit islamischen Gesellschaften heraus, fühlen sich viele von rechten und populistischen Parteien angezogen. Dies wiederum machen sich viele zunutze, um die Sorgen und Ängste in der Bevölkerung weiter anzuheizen. Es kommt zur Fragmentierung in der Mitte der Gesellschaft und zwingt diese zu einem notwendigen Diskurs, der geführt werden muss. Angefangen von der Kopftuchdebatte bis hin zur Fußballnationalmannschaft überschattet das Thema Religion die Gesprächsinhalte. Europa ist einst davon ausgegangen, dass Religion als Differenzierungsmerkmal der Vergangenheit angehört. Doch kommt der Spiritualismus, und damit ist nicht nur der Islam gemeint, mit voller Wucht zurück. Eben weil wir inzwischen global agieren und viele Menschen in der Welt religiös sind. Mit dem Zustrom an Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und Afrika verstärkt sich dieser Effekt noch zusätzlich. Und leider ist auch zu beobachten, dass sich viele bei den Debatten, auch angesehene Politiker, im Ton vergreifen, wenn es um den Umgang mit der Religion und ihren Auswirkungen geht. Dabei sollten wir aus den Fehlern der letzten Jahrzehnte lernen. Im Irak und anderen Ländern des Nahen Ostens kann man immer mehr kritische Stimmen hören, die sich mit den negativen Auswirkungen und der Politisierung der Religion beschäftigen. Der Aufstieg des Islamischen Staates mit seiner menschenverachtenden Ideologie hat zu vielen Debatten geführt, die fortgesetzt werden müssen. Allerdings auf einer weniger populistischen Ebene, denn mehr, der Tradition verpflichtet, innerhalb philosophischer Akzente. So grausam es auch klingen mag, so hat die Terrororganisation doch bewirkt, dass gerade junge Muslime damit beginnen, starre und veraltete Sichtweisen in der eigenen Religion zu hinterfragen. Dass der Status als Mensch zweiter Klasse unter der Scharia dazu geführt hat, dass indigene Minderheiten wie die Christen den Exodus antreten, ist nur eine von vielen Entwicklungen, die einer jungen Generation im Nahen Osten zu denken gibt.
In meiner letzten Dokumentation, die Interviews dazu führte ich März 2018 im Irak und in Syrien, kommen Politiker, Geistliche, aber auch junge Muslime zu Wort, die sich scheinbar sehr tiefgründig mit den Entwicklungen in ihrer Gesellschaft auseinandersetzen. Der Ruf nach Trennung zwischen Staat und Religion, einheitlichen Gesetzen für alle Bürger und deren strikte Einhaltung, mehr Meinungs- und Pressefreiheit und das offene Ansprechen von Korruption, scheinen junge Bürger des Iraks zu beschäftigen. Teilweise war ich über die Offenheit der Gespräche, immer auf einer respektvollen Ebene, doch recht überrascht.
Nach all den Jahren habe ich Hoffnung und Glauben. Hoffnung, weil ich eine junge Generation sehe, die sich in einer Graswurzelbewegung sammelt und etwas verändern möchte. Sie haben einfach genug von der Gängelung durch ultraorthodoxe Kleriker oder auch korrupte Politiker. Glauben, weil ich der Überzeugung bin, und die jungen Begleiter in der Dokumentation, Hassan und Ali, sind nur ein Beispiel dafür, und weil ich real sehe, dass eine junge Generation Taten folgen lässt. Übrigens nicht nur im Nahen Osten, sondern beispielsweise auch in Deutschland. Hier seien die Aktivitäten der Gruppierung 12thMemoRise, der Ali und Hassan angehören, erwähnt, die medial mal plakativ, dann wieder pompös zelebriert, provozieren. Aber vielleicht ist es eben jene Provokation, die wir neben den teilweise immer gleichen Talkrunden und klaren Konsens, oft ohne „Punkt und Komma“, brauchen.
Ja, die oft religiös legitimierte Verfolgung oder Unterdrückung von religiösen und indigenen Minderheiten in politisch instabilen Regionen, in Autokratien, in Diktaturen usw. findet statt. Und ja, der Populismus in Europa und allgemein in der westlichen Welt, welcher sich in vielerlei Hinsicht eine Bühne verschafft und oft auch Frauenfeindlichkeit, Islamophobie, Hass auf Andersdenkende usw. mitbringt, selbst in intellektuellen Kreisen zelebriert und heißblütig abgefeuert in den sozialen Medien, ist nun in der Gesellschaft wieder angekommen.
Unter dem Blickwinkel der Globalisierung, der technologischen Entwicklung, allen voran der Digitalisierung der Gesellschaft, der demographischen Entwicklung und in Kombination all dieser Faktoren, war das alles allerdings vorauszusehen. Huntingtons „The Clash of Civilizations“, ein Werk welches 1996 publiziert wurde, beschrieb bereits damals das heutige Szenario. Wir wollten es lediglich nicht wahrhaben.
Was nun tun? Den Kopf in den Sand stecken? Mitnichten!
Lernen wir aus der jüngsten Vergangenheit und nutzen wir das geballte Wissen einer jungen Generation, die sich Vernunft aneignet und gehen wir die Debatten an, die geführt werden müssen.
Vielleicht trägt diese Dokumentation ein bisschen dazu bei.
Simon Jacob
28. Februar 2018, Bagdad /Zentralirak
Buchtipp:
Seit Jahren reist Simon Jacob durch Länder wie Syrien, Irak oder Iran. Als Angehöriger eines wichtigen Clans gelangt er an Orte, die für andere nie zuganglich waren. Dort spricht er mit Menschen, immer auf der Suche: der Suche nach Frieden, auch seinem eigenen Inneren. Seine Reise schildert auch die Schrecken dieser Kriegsgebiete. Aber mehr noch zeigt dieses Buch, dass und wie Friede wirklich möglich ist. Eine Botschaft, die vor allem in diesen Tagen Mut und Hoffnung macht und motiviert, zu kämpfen für eine bessere Zukunft und für etwas, was Simon Jacob ausgerechnet im Irak und in Syrien wiedergefunden hat: Menschlichkeit.
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