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Ort: Bagdag, Irak
Format: Video
Thema: Gesellschaft
Datum: 01.03.2018
Portal: www.oannesjournalism.com
Textdauer: ca. 7 Min.
Videodauer: ca. 6 Min.
Sprache: Deutsch/Englisch
Titel: Hashd Al Shaabi – Gesundheits-, Trauma- und Mediencenter – Verwaltungsstelle der Freiwilligenarmee
Der Artikel ist Teil einer mehrteiligen Serie mit Berichten und Videos über die Situation in Nordsyrien/Nordirak, entstanden im Frühjahr 2018 - Der Auftaktartikel kann HIER nachgelesen werden.
Hashd Al Shaabi – Gesundheits-, Trauma- und Mediencenter – Verwaltungsstelle der Freiwilligenarmee
Wer ist die Freiwilligenarmee „Hashd al – Shaabi“, ohne die der Kampf gegen den IS um einiges schwerer, wenn nicht sogar unmöglich gewesen wäre? Mitte 2014, unterstützt durch Säkularisten der ehemaligen Baath – Partei, überrannte der IS den Irak und nahm strategisch wichtige Gebiete ein. Als sich die Terrororganisation auf den Weg Richtung schiitisch dominiertes Gebiet machte, mit dem Ziel Bagdad zu erobern, rief am 13. Juni 2014 Ayatollah Al Sistani, der wichtigste schiitische Kleriker im Lande, zum Dschihad auf. Nuri Al Maliqi, damals noch Premierminister, unterstützte den Aufruf und stellte auch eine Bezahlung für die in Aussicht, die sich freiwillig dem Kampf gegen den IS anschließen würden. Letztendlich führte die Zusage der Besoldung zur Gründung der „Haschd Al Shaabi“ Freiwilligeneinheiten, die den IS am Boden sehr effektiv bekämpften. Ihnen werden aber auch, und diese Aussagen sind noch zu überprüfen, angebliche Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Die Bewaffnung, Ausbildung und auch die logistische Koordination erfolgte über den Iran. Qasem Soleimani, Kommandeur der Iranischen Revolutionsgarden, übernahm den Befehl über eine Einheit der Freiwilligenarmee in der Provinz Anbar. Nach der Offensive zu Befreiung Mosuls, beginnend mit dem 17. Oktober 2016, verabschiedete das irakische Parlament ein Gesetz, welches am 26. November 2016 die Freiwilligenarmee offiziell zu Streitkräften des Iraks erklärte. Damit standen die Einheiten defacto unter dem Befehl des irakischen Verteidigungsministerium. Unter den gut 100.000 kampffähigen Männern, vorwiegend Schiiten, scheinen sich aber auch Christen und Jesiden zu befinden. Organisiert in unterschiedlichen Verbänden und Organisationen, die zwei politische Strömungen aufweisen. Eine Richtung zeichnet sich durch eine Annäherung an den Iran, der Hisbollah und Maliqi aus. Die andere Gruppierung fühlt sich eher dem Kleriker Muqtada Al – Sadr und dem irakischen Premier Haydar Al Abadi verpflichtet. Es ist davon auszugehen, dass die Trennlinien auch die Interessen einzelner Stämme widerspiegeln, welche verschiedenen Akteuren Loyalität zugesagt haben. Gerade dieses Verständnis für den Clankodex und die damit verbundene Loyalität gegenüber dem Befehlsgeber ist für viele Politiker im Westen nicht immer klar und verständlich. In Bagdad hatte ich die Möglichkeit erhalten, im Zentrum der Freiwilligenarmee mit Verantwortlichen der Administration Gespräche zu führen.
Das recht neu eingerichtete Gebäude im Herzen Bagdads, nicht unweit des Euphrat, strahlt eine moderne Ästhetik aus, wenn man dieses betritt. Verletzte in Rollstühlen, die hier behandelt werden, warten auf die Aufzüge, die sie zur Weiterbehandlung in verschiedene Abteilungen bringen. Das sehr große und mit recht vielen Büroeinheiten durchzogene Gebäude ist unterteilt in eine Gesundheitsabteilung, ein Medienzentrum und den Verwaltungsapparat.
Zunächst wurden wir im Traumata Center, welches im Trakt der Gesundheitsabteilung untergebracht ist, von einem hohen medizinischen Offizier der Freiwilligenarmee und Frau Dr. Sundus Al Khalassi empfangen. Dr. Khalassi, Anfang 30, war bereits mehrfach in Deutschland und hat unter anderem auch psychologische Fakultäten von verschiedenen Universitäten wie Wien und Leipzig besucht. Sie berichtete uns von ihrer Arbeit, die gerade für Betroffene und Verantwortliche im Nahen Osten in vielerlei Hinsicht Neuland ist. Posttraumatische Erlebnisse gab es schon immer durch kriegerische Auseinandersetzungen. Doch die Art und Weise wie diese inzwischen Zugang zur Bevölkerung finden, verstärkt durch moderne Kommunikationsmittel und einer erhöhten Sensibilität, haben die Folge, dass ein Bedarf an Fachkräften entstanden ist. „Wenn jemand ein Bein verliert, dann sieht man es. Wenn jemand wegen traumatischer Erlebnisse immense psychische Störungen hat, so betrachtete man das oft nicht als Krankheit, weil diese nicht ersichtlich sind“, so Dr. Khalassi. Überhaupt scheint die eloquente Medizinerin sich exzellent in ihrem Fachgebiet auszukennen – leider aufgrund zumeist trauriger Erfahrungsberichte beruhend. Sie berichtet über Soldaten, die zusehen mussten, wie ihre Kammeraden vor ihren Augen in Stücke gerissen wurden. Wieder andere erlebten mit, wie Kinder ums Leben kamen und viele, sehr viele haben Gliedmaßen verloren, ohne das richtig realisiert zu haben. Erschwerend kommt die Brutalität asymmetrischer Konflikte mit Hochpräzisionswaffen, die Feind und Freund aus der Ferne den Tod bringen, hinzu und dass man ständig in einem Dauerstressmodus ist. Die Erfahrung im Umgang mit solchen Ereignissen, dies beschreibt auch die Leiterin der psychologischen Abteilung im Video – Interview deutlich, müssen sich Länder wie der Irak erst aneignen. Das Bewusstsein dafür war bisher nur rudimentär vorhanden, ändert sich aber zunehmend mit der Rückkehr der massiv traumatisierten Kämpfer von der Front. „Es ist eine Schande in der Gesellschaft, wenn psychologische Krankheiten in der Bevölkerung als solche nicht anerkannt werden. Nicht einmal die Patienten sagen, sie wären Patienten“, so die recht strengen Worte der Verantwortlichen.
Immerhin gibt es inzwischen die Erkenntnis, dass psychologische Behandlungen, auch seitens staatlicher Ebene, einen wichtigen Stellenwert haben.
Von Bedeutung sind auch mobile medizinische Einheiten, wie mir ein leitender Kommandeur erklärt, der gleichzeitig Chirurg ist. Gerade in Regionen in denen keine Infrastruktur vorhanden ist spielten diese eine große Rolle, um auch Zivilisten an vielen Orten behandeln zu können. Eine Infrastruktur mit einem dichten Netz an Rettungskräften, wie man es z.B. in Europa kennt, ist in ländlichen Regionen nicht vorhanden. Sehr oft wurden beispielsweise Entbindungen in solchen Stationen durchgeführt, wie mir berichtet wurde. Entsprechend ist die Akzeptanz dieser Einheiten bei der Zivilbevölkerung recht groß, was auch Auswirkungen auf das Image der regulären irakischen Armee hat, die sich bei den größten Offensiven des IS nicht als sehr robust erwiesen hat.
Zumindest im Zentralirak genießt man einen immensen Rückhalt und konkurriert indirekt mit den regulären Streitkräften.
Zum Schluss wurde, nachdem ich die Möglichkeit hatte verschiedene Schulungsräume zu besichtigen, der Kontakt zur Medienabteilung hergestellt, in der hauptsächlich junge Mitarbeiter aktiv waren, die nicht nur „IS – Propagandamaterial“ auswerteten, sondern selber aktiv Nachrichteninhalte produzierten, die über die vorhandenen Kommunikationswege die Bevölkerung versorgten. Die Berichterstattung ähnelt der vieler anderer Akteure. Allerdings explizit ohne Gewaltexzesse zu plakativ für nahöstliche Verhältnisse, und entgegen der Art des Islamischen Staates, darzustellen. Viel Frontmaterial wurde mir auf einem Datenträger übergeben, welches ich für meine Berichterstattung nutzen darf. Dankend habe ich dieses entgegengenommen.
Simon Jacob,
1. März 2018, Bagdad /Zentralirak
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